Martti hatte sich angewöhnt, nach dem Mittagessen einen Spaziergang durch die Akademie zu machen, anstatt mit den anderen Lehrern beim Kaffee über die Schüler zu lästern. Er hatte mit dem Verwaltungsgebäude und dem Krankenhaus in der Mitte begonnen, dann die Lehrgebäude drumherum angeschaut. Die Wohnheime hatte er sich für zuletzt aufgehoben.
Wie immer hatte er nur einen Besuch gebraucht, um sich zurecht zu finden. Der regelmäßige Aufbau der Gebäude half, auch wenn Edgar sie als langweilig und verwirrend bezeichnete.
Im Gegensatz zu dem rechenschwachen Satanisten, der die Uni entworfen hatte, schien der Architekt der Akademie ein Fan mittelalterlicher Festungen zu sein. Der Zaun war ein unregelmäßiger Stern mit mehr Zacken als Martti Finger hatte. Offenbar war der Boden sehr weich, denn die dünnen Pfosten waren tief in dicken Fundamenten eingelassen. Die Gebäude selbst hatten dicke Wände und kleine Fenster in Richtung des Zauns. Der Kontrast zu den dünnen Wänden mit den riesigen Fenstern in Richtung der Mitte der Akademie ließ die Gebäude seltsam unausgeglichen wirken.
Nachdem Martti die Position jedes Baums und jedes Strauches auf dem Gelände kannte, wurden die Spaziergänge schnell langweilig. Das änderte sich, als er unter dem Verwaltungsgebäude eine Tür entdeckte, bei der sich jemand sehr viel Mühe gegeben hatte, sie vor den Augen von Besuchern zu verbergen. Normalerweise führten Türen dieser Art in Technikräume, die Architekten gerne als ästhetisch unwichtig ansahen und sie deshalb hinter Ecken und Winkeln versteckten.
Diese Türen waren typischerweise nicht gepanzert und mit mehreren biometrischen Schlössern versehen. Marttis Neugier ging durch die Decke. Er hatte ein neues, aufregendes Projekt für die Mittagspause. Es dauerte fast eine Woche, bis er einen Weg in den Raum hinter der Tür fand. Auf dem Dach des Verwaltungsgebäudes entdeckte er ein Dutzend dünner Lüftungsrohre, die keine Gegenstücke im Gebäude hatten. Jedes Rohr war kaum dicker als ein menschlicher Arm; zusammen kamen sie jedoch auf eine größere Kapazität als die anderen Rohre.
Da der Architekt nicht damit gerechnet hatte, dass es höhere Lebewesen ohne Endoskelett geben könnte, waren die Rohre nur rudimentär gesichert. All das führte dazu, dass Martti in einem hell erleuchteten, breiten Gang stand, in dem er absolut nichts zu suchen hatte.
Wie immer in einer solchen Situation lief er herum, als gehörten ihm Gang und Gebäude und der Planet gleich mit. Aus einer Laune heraus betrat er ein Labor, das mit Sektion 2, Materialforschung beschriftet war. Hinter der Tür fand Martti ein Dutzend Werkbänke. Maschinen verschiedenster Art standen an allen Wänden.
Obwohl das Labor sicher die Fläche eines Fußballplatzes hatte, sah Martti nur drei Schüler. Ein Lehrer war zum Glück nicht anwesend. Die Neugier trieb Martti zum nächstgelegenen Tisch. Ein Junior, vielleicht in der sechsten Klasse, hantierte mit irgendwelchen Chemikalien.
Nachdem der Junge eine glänzende Flüssigkeit in ein grünliches Öl getröpfelt hatte, nahm er die Gasmaske ab. »Sie sind der neue Informatiklehrer.«
Martti nickte. »Was hat mich verraten?«
Der Junge schaute auf seine Uhr, dann zu der Chemikalie, dann wieder zu Martti. »Die ganze Schule hat von Ihrem … von Ihnen gehört.«
»Ah. Ich vermute, die beiden Senioren sind inzwischen bessere Menschen geworden und danken mir dafür überschwenglich?«
Der Junge starrte Martti verwirrt an. Offenbar war ein Lehrer mit Humor ein absolut neues Konzept an dieser Schule.
»Das war ein Witz. Ich weiß, was die beiden über mich erzählen. Und ich habe die Videos gesehen.«
Martti trat an den Tisch heran. »Was wird das hier eigentlich?«
»Ich experimentiere mit aufblasbarem Aluminium.« Der Junge wurde sofort wieder selbstsicherer.
»Was für … Und was kann man damit machen?«
»Ich kann extrem stabile Strukturen aus Luft und Aluminium herstellen, die sich zudem zusammenfalten lassen. Hier.« Der Junge nahm einen Schraubenschlüssel, den Edgar vermutlich gerne als Hantel gehabt hätte. Mit einer lockeren Bewegung warf er ihn Martti zu.
Der wich aus, bis er merkte, dass sich das Werkzeug eher wie ein Ballon bewegte. Mit einem Armtentakel fing er es auf.
»Wow! Das Ding wiegt ja gar nichts.«
»Es ist trotzdem stabiler als Stahl.« Der Junge nahm den Schlüssel zurück, setzte ihn an einer Ecke der Tischplatte an und stützte sich dann darauf.
»Und wenn man es nicht braucht, kann man einfach die Luft rauslassen …« Der Junge drehte eine Schraube in der Mitte des Schlüssels. Mit einem Zischen entwich die Luft.
»… und dann kann man das Werkzeug ganz klein zusammenfalten.« Der Junge legte eine Metallkugel in der Größe einer Kirsche auf seine Handfläche.
»Und wenn man es braucht, kann man es einfach aufblasen.« Der Junge demonstrierte auch das. Mit zwei Atemzügen hatte er den Schraubenschlüssel wieder in seine ursprüngliche Form gebracht.
Marrti beobachtete die Demonstration mit offenem Mund. In seinem Kopf rumorte es. Irgendetwas passte hier ganz und gar nicht zusammen. Auch wenn es nicht gerade ethisch war, einen Schüler auszufragen, musste er es wissen.
»Aber wieso gerade Werkzeug?«
Der Junge seufzte, dann ließ er sich schwer auf den Hocker fallen. »Das ist ein Prototyp. Ich hab bisher noch keine gute Idee gehabt, wie man damit die Invasion aufhalten kann. Wenn mir nicht bald was einfällt, war die ganze Arbeit umsonst und ich kriege ein C.«
In Marttis Kopf setzte sich ein Bild zusammen. Die Geschichten über die Akademie waren also doch wahr. Damit konnte man arbeiten.
»Hmm. Wie wäre es mit einem Geschäft? Ich gebe Dir zwei Ideen. Die eine gibst Du ab, die andere baust Du für mich. Sozusagen als Bezahlung.«
Der Junge starrte Martti entgeistert an. »Das … das wäre Betrug.«
»Nein, wieso? Ich bin nur hier, um Dir von einem Problem zu erzählen, dass ich habe. Wie Du es löst … Ob Du es überhaupt lösen kannst, ist Dein … naja, Problem.«
Der Junge zögerte einen Moment, dann nickte er.
»Die Idee zum Abgeben: Wenn Du eine dieser kleinen Kugeln in eine große Scheibe aufbläst: was würde passieren, wenn das bei hohen Geschwindigkeiten passiert?«
»Die Scheibe bremst ab. Wie hilft mir das?«
»Was würde passieren, wenn die Scheibe sich dreht und vielleicht … einen scharfen Rand hätte?«
»Kommt aufs Material und die Drehzahl an. Ich soll eine Kreissäge daraus bauen?«
»Denk mal weiter. Was bewegt sich schnell und würde Dir ein A bringen?« Marrti wusste, dass er den Jungen an der Angel hatte. In ein paar Sekunden würde der anhand der Bilder in seinem Kopf entweder auf den Tisch brechen oder ihm ewig dankbar sein.
»Ein … Geschoß? Ich soll eine Kreissäge in eine Gewehrkugel stecken?« Auf dem Gesicht des Jungen flackerten Abscheu und Begeisterung.
Martti schwieg.
»Wenn man einen kleinen Gasgenerator beim Einschlag zündet, würde … Oh mein Gott! Das würde einen Feind in Stücke reißen!« Die Abscheu verflog.
Martti gefiel der Fanatismus des Jungen gar nicht. Da Seykey generell eher auf das Wohl der Schüler bedacht zu sein schien, konnte nur Professor Awang dahinter stecken.
»Sehr gut«, sagte Martti, so als hätte der Junge eine schwierige Gleichung gelöst und nicht eine bessere Methode ersonnen, Hackfleisch aus Menschen herzustellen.
»Und jetzt die zweite Idee: Messer.«
Der Junge nickte. »Klar, wenn man zum Beispiel den Gasgenerator zeitverzögert auslöst, kann man statt einer Kreissäge ein Dutzend Messer verschießen. Ich muss ein paar Simulationen machen, damit das nicht tödlich ist, aber das kriege ich hin.«
Martti schüttelte den Kopf. »Ich will ein Armband, aus dem auf Knopfdruck verschiedene Messer ausfahren. Kleine, große, spitze. Sowas.«
Der Junge wirkte enttäuscht. »Das ist kein Problem. Da brauch ich nicht mal einen Gasgenerator zu entwickeln. Eine Druckluftpatrone reicht. Mit einer Patrone für Schlagsahne wird das Material so stark, dass es Beton schneiden kann.«
Martti zuckte zusammen. Er musste sich anstrengen, nicht auf seine – momentan eingezogenen – Fingernägel zu schauen. »Ich nehme acht. Die Formen der Messer und die Anordnung der Knöpfe schicke ich Dir per Mail.«
Martti drehte sich zur Tür. Die Mittagspause war fast um.
»Sie haben nicht mal gefragt, wie ich heiße«, rief ihm der Junge hinterher.
Martti winkte über die Schulter, bevor er das Labor verließ. Sollte der Junge in seiner Informatikklasse auftauchen, würde er wohl bei den Grundlagen anfangen müssen. Sie beide hatten ihre Tablets dabei. Wieso sollte er also nach dem Namen fragen müssen?
Der Rest der Woche verging wie im Flug. Im Gegensatz zu seiner Zeit an der Uni freute sich Martti auf die Mittagspause. Nach dem Alchemielabor hatte er einen Zauberer beim Schleudern von Blitzen beobachtet, mit einen Lichtschwert ein paar Stahlträger zerhackt und ein Meerschweinchen gestreichelt, das auf Kommando einen Dobermann zerfleischt hatte.
Anschließend hatte ein Schüler die Kratzer, die das Meerschweinchen auf Marttis Haut hinterlassen hatte, mit einer Salbe behandelt, die die Verletzungen in wenigen Sekunden verschwinden ließ.
Heute war Freitag und Martti hatte ein Problem. Es bestand darin, dass er in einem Labor ein Stück Knetmasse aus einem verschlossenen Behälter geholt hatte.
»Sie bleiben genau da stehen! Wenn Sie sich bewegen, wird es nur schlimmer!« Der Senior tastete leicht panisch nach dem Alarmknopf, der von der Decke hing.
Martti folgte der Anweisung. So wie sich die Schüler an die gegenüberliegende Wand des Raumes drückten und dabei Schutzmasken aufsetzten, schien sein Problem größer als das unbefugte Betreten der Abteilung für Waffenentwicklung zu sein.
»Was ist das für ein Zeug?« Martti deutete mit dem Kopf auf die gelbe Masse, die seine rechte vordere Hand umschloß.
»Mullard’s Gleitgel«, kam ein Zwischenruf von der Rückwand, gefolgt von allgemeinem Kichern. Auch wenn sie mit gefährlichen Materialien arbeiteten, waren es immer noch Teenager.
»Was ist ein Mullard?« Martti streifte die Masse mit der vorderen linken Hand von seiner rechten. Das war führte lediglich dazu, dass sie auch seine anderen Finger umschloß.
Bevor der Senior antworten konnte, flog die Tür auf. Seykey, ausgestattet mit einem Schutzanzug und ungewöhnlicher Aggressivität, zeigte auf den Studenten.
»Herr Mullard, was hatte ich Ihnen zum Thema Aufbewahrung gefährlicher Güter gesagt?«
Der Senior zog die Luft durch die Zähne ein.
»Das ist meine Schuld«, sagte Martti. »Ich habe dieses Zeug ohne zu fragen aus dem Behälter genommen, in der Annahme, es handelt sich um ein Spielzeug.«
»Zu Dir kommen wir später, Martti. Es gibt Gründe, warum Du noch keine Zutrittserlaubnis zu den Laboren bekommen hast. Ein Sicherheitslehrgang ist einer davon. Wir klären später, wie Du es trotzdem geschafft hast, hier zu sein. Jetzt kümmern wir uns erst einmal darum, dass Du nicht den ganzen Campus kontaminierst.«
Martti öffnete die durchsichtige Dose mit seinen hinteren Händen, dann hielt er die vorderen darüber. Die gelbe Masse floss langsam von seinen Fingern.
Sowohl Seykey als auch Mullard starrten ihn verwundert an, bis er die Dose wieder verschlossen hatte.
»Scan!« Seykey winkte einen Sicherheitsmann nach vorn. Der leuchtete mit einer Taschenlampe den Boden, den Tisch und die Dose ab.
Martti streckte die Hände nach vorn. Alle Sicherheitsleute und Seykey traten einen Schritt nach hinten. Martti musste sich beherrschen, nicht ›Brains! Brains!‹ rufend hinter ihnen her zu schlurfen.
Der Wächter leuchtete Martti ab. Bevor er die Lampe ausschaltete, fuhr der Strahl über Marttis Gesicht.
»Ey! Du musst mich nicht gleich blenden!« Der Lehrer wider Willen wandte den Kopf ab.
Seykey wirkte verwirrt, aber erleichtert. »Keine Spuren der Nanopartikel. Sieht aus, als hätten wir gerade nochmal Glück gehabt.«
»Nanopartikel?« Martti rieb sich die Augen.
»Die Substanz …«, begann der Schüler.
»Mullard’s Gleitgel«, korrigierte eine kichernde Stimme.
»… war als perfekter Schmierstoff gedacht. Kohlenstoff-Nanopartikel eingebettet in Boron-Öl. Die Simulation hatte einen Reibwert von 0 vorhergesagt. Das Zeug sollte das Äquivalent eines Supraleiters werden.«
Martti erkannte das Problem sofort. »Stattdessen setzt es die Nanopartikel frei.«
»Und klebt so stark, dass man es nur von Ceraplast …« Der Schüler deutete in Richtung der Dose. » … jemals wieder abkriegt. Alles andere …«
»… wird verschluckt wie meine Finger«, vervollständigte Martti den Satz. In seinem Kopf entstanden gerade ein Dutzend Ideen. Keine davon war für die Diskussion in zivilisierter Gesellschaft geeignet.
»Und diese Nanopartikel sind vermutlich giftig. Daher die ganze Aufregung.« Martti gestikulierte in Seykeys Richtung.
»Sie zerreißen die DNA der Zellen auf molekularer Ebene.« Mullard wirkte immer unglücklicher.
»Ahh. Mehr Mutationen. Gut«, sagte Martti. Das zauberte einen entsetzten Anblick auf die Gesichter der Anwesenden.
»Nein. Sie sterben einfach an Krebs. Wenn Sie es einatmen, haben Sie noch drei Tage. Drei sehr schmerzhafte Tage.«
In Marttis Kopf verdoppelten sich gerade die guten, aber noch weniger ethischen Ideen.
»Ah verstehe. Und die Taschenlampe?« Martti drehte sich zu Seykey.
»Die Partikel fluoreszieren, wenn man sie mit Nahinfrarot-Licht bestrahlt. Bei 1100 Nanometer leuchten sie am hellsten.«
»Dann habt ihr die falsche Lampe mitgebracht. Ich bleib dann mal so lange stehen, bis ihr alles abgeleuchtet habt.« Martti streckte die Hände von sich.
Seykey schüttelte den Kopf. »Mit der Lampe ist alles in Ordnung.«
»Unsinn. Ich hab das Licht doch genau gesehen. Nahinfrarot ist jenseits des sichtbaren Lichts.« Martti schaute die Direktorin an.
»Ja. Das müssen wir wohl bei Deiner Eingangsuntersuchung übersehen haben. Keine Sorge, das holen wir nach. Bitte folge mir. Vorzugsweise ohne eine weitere Katastrophe zu verursachen.«
Martti lief hinter seiner Chefin her. Er hatte das Gefühl, dass er einen Großteil der nächsten Tage damit verbringen würde, durch immer engere Rohre zu kriechen.
»Und Herr Mullard: Schließen Sie das Experiment bitte ein, bis wir eine Methode zur sicheren Entsorgung gefunden haben.«
Submitted: February 16, 2025
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