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Martti schlängelte sich über den Boden. Für mehr reichten weder Kraft noch Ausdauer. Nachdem er den vierten Tag in Folge damit zugebracht hatte, Sensormodule und sehr feinmaschige Gitter in Lüftungsrohre einzubauen und dann noch von Seykey im Labor gequält zu werden, hatte er eigentlich keine Lust mehr, irgendetwas zu unternehmen. Trotzdem schaute er bei Edgar vorbei. Er hatte eine Wette einzukassieren.

Dessen Tür stand offen, also schlich sich Martti hinein. »Du schuldest mir einen Fünfer! Ich passe doch in eine Getränkedose!«

Edgar drehte sich um. Zu Marttis Überraschung wirkte er fast fröhlich. Vielleicht sollte er ihn öfter beim Wetten abzocken. Das schien eine Win-Win-Situation zu sein.

Der Student seufzte. »Amy, hast Du mal Kleingeld?«

Martti zuckte hoch. In einer Sekunde verwandelte sich die entspannte lila Pfütze in einen hellwachen Albtraum. Als er die Situation eingeschätzt hatte, nahm er die Finger von den Auslösern der Messer. Auf Edgars Bett lümmelte eine junge Frau, so als wohne sie hier.

»Du bist also das freundliche Monster von nebenan«, sagte sie, nachdem sie Martti von oben bis unten inspiziert hatte.

Martti sah nur ihre goldbraunen Augen. Nach einer zu langen Pause sagte er: »Und Du die Hotelerbin.«

Edgar starrte Martti an. »Du … weißt, wer ich bin?«

»Es hat eine Weile gedauert, bis ich von ›Meine Eltern haben ein Hotel‹ zu ›Ich bin Edgar Hendricksen, Millardärssohn‹ gekommen bin.« Martti drehte sich nicht zu Edgar, da er sich nicht von Amys Augen abwenden konnte.

»Und Du bist nicht … sauer? Dass ich ein … Schnösel bin, wie Du immer sagst?« Edgar wirkte ernsthaft besorgt.

»Weil Du mich angelogen hast? Ich hatte von Euch Schnöseln nichts anderes erwartet«, sagte Martti mit einem breiten Grinsen.

»OK. Dann kriege ich die fünf Dublonen von Dir.« Martti hielt die hintere rechte Hand auf und verschränkte die vorderen. Er wollte die Reaktion der Frau sehen. Bei den meisten Menschen — und das schloß Mutanten mit ein — war es irgendeine Form von Abscheu.

Mit einem Seufzer zog sie ihr Tablet hervor. Einen Moment später brummte Marttis.

»Das zahlst Du mir zurück, Eddy.« Bis auf einen leicht genervten Unterton war Amys Stimme unverändert.

Martti entspannte sich wieder. Normalerweise hätte er sich in der oberen Ecke von Edgars Tür festgesaugt. Das brauchte deutlich weniger Kraft als aufrechtes Stehen. Allerdings hatten ihm schon mehrere Leute beschrieben, wie abstoßend das aussah. Nach einer Sekunde entschied er, dass es ihm egal war. Der Tag war zu lang gewesen.

Amys Blick folgte ihm, während er Ärmel und Hosenbeine hochschob. Nachdem er es sich bequem gemacht hatte, schaute er sie an. Die Frau wirkte nur überrascht, aber nicht angewidert.

»Und was macht jemand wie Du hier beim einfachen Volk? Bessere Methoden ersinnen, uns auszubeuten?«

»Ich besuche meinen Bruder, den ich schon seit Monaten nicht mehr gesehen habe.« Amy ließ sich von Marttis Sticheleien nicht aus der Ruhe bringen. »Ich bin übrigens nicht im Hotelgewerbe. Oder betreibe sonst ein Geschäft. Ich arbeite für die Regierung. Ehrenamtlich.«

»Das macht es gleich viel besser. Als ob Euch die Gesetze nicht schon genug Vorteile verschaffen.«

Amy legte den Kopf schief. »Das sind nicht nur dumme Sprüche, oder? Du bist wirklich davon überzeugt, dass sich ganz Foundation gegen New Horizons verschworen hat.«

»Eine Verschwörung würde man versuchen, geheim zu halten. Die Benachteiligung von New Horizons passiert eigentlich ziemlich öffentlich.«

Martti lauschte in sich hinein. Trotz ihrer magischen Augen war Amy immer noch ein Vertreter der Leute, die sein Leben lang auf ihn herab geschaut hatten und es dabei ganz klar gemacht hatten, dass sie es taten und warum. Was konnte also jemand wie sie in ihm sehen? Er sollte in ihre Freundlichkeit nicht zu viel hinein interpretieren.

Seit seiner Mutation hatte er sich schon mehrfach die Frage gestellt, wie das mit Beziehungen bei Mutanten funktionierte. Irgendwie schien es zu funktionieren, wenn die knutschenden Schüler in diversen Ecken des Campus ein Indikator waren. Aber sie alle waren aus Foundation. Und alle waren Mutanten. Sie teilten gleiche Erfahrungen, sie hatten Gemeinsamkeiten.

»Was hat Dir Edgar über mich erzählt?« Martti musste herausfinden, was Amy vorhatte.

»Alles. Die Aktion mit den Senioren war … hart, aber wohlverdient.«

»Natürlich. So ist er, unser Edgar. Muss den ganzen Tag schwatzen, egal worum es geht.« Marttis Blick zuckte kurz zu dem Studenten, der still über seinen Büchern hockte.

Amy kicherte. »Zu Hause ist das tatsächlich so.«

Edgar quittierte das wortlos mit einer Geste, die wie ein erhobener Presslufthammer aussah.

»Und? Wie mache ich mich bisher?« Wenn Amy über seine Fehler hinwegsehen konnte, dann konnte sie auch über sein Veränder… Martti verbot sich, diesem Gedanken zu folgen.

»Gut genug, dass Du mir Dein Zimmer zeigen kannst. Edgar meinte, Du hast einen Putzfimmel.« Amy erhob sich in einer Eleganz, die Martti selbst mit Tausend Stunden Training nie erreichen würde. Er saugte den Anblick auf.

Nach einem Blick auf die herumliegenden Bücher und Steine sagte er: »Alles relativ.«

Martti ließ Amy den Vortritt. Sie schaute sich die Räume an, dann fläzte sie sich auf die Couch. Martti erkannte sofort die Ähnlichkeit zu Edgar, nur dass Amy nicht die ganze Fläche beanspruchte. Er plumpste in den Sessel gegenüber.

»Warum kommst Du nicht zu mir?« Amy tätschelte die Lehne.

Martti richtete sich auf. »Aus der Richtung weht der Wind. Du suchst etwas Exotik. Und exotischer als ein Mutant aus New Horizons geht nicht.«

Amy lehnte sich nach vorn. »Du bist ein bisschen paranoid. Hat Dir das schon jemand gesagt?«

Martti zuckte mit den Schultern. »Nenne es schlechte Erfahrungen. Du bist nicht die erste Tochter aus reichem Hause, die glaubt, Papa ärgern zu können, indem sie jemanden wie mich anschleppt. Nein danke. Diese Erfahrung brauche ich kein zweites Mal.«

»Tut mir leid, wenn Du in der Vergangenheit enttäuscht wurdest. Glaub mir: Nicht alle Menschen sind so.«

Martti schüttelte nur den Kopf. Wie hatte er nur auf den Gedanken kommen können, dass Amy …

»Hast Du genug gesehen, wie das einfache Volk lebt? Wenn ja, wäre es nett, wenn Du jetzt gehst. Das einfache Volk muss morgen früh aufstehen, um die Kinder der herrschenden Klasse zu unterrichten.« Martti blieb still sitzen. Er würde diese Augen vermissen. Diese Augen waren ein Fehler und Fehler machte er nur einmal.

Amy verharrte einen Moment, dann stand sie auf. »Dann lass ich dich mal in Ruhe. Wir sehen uns in ein paar Tagen.«


Martti verließ das Wasser nur widerwillig. Er hatte sich von Amy überreden lassen, Edgar zu einem Tag am Strand zu bewegen. Sie hatte eine Bucht an der Küste südöstlich von Foundation ausgewählt. Die Verkehrsdichte auf dem Weg dahin war stetig gesunken. Hier am Wasser waren sie ganz allein.

»Wir sollten langsam zusammenpacken, sonst kommen wir erst um Mitternacht zurück.« Edgar sammelte seine Bücher ein. Nachdem er einmal im Wasser gewesen war, hatte er seinen Rüssel zwischen die Seiten gesteckt.

Amy hingegen hatte mit Martti den ganzen Tag im Wasser herumgetobt. Erst vor einer Stunde hatte sie sich ans Ufer geschleppt und war sofort auf ihrem Handtuch eingeschlafen. Martti hatte sich von einer Strömung aufs Meer hinaustreiben lassen und war dann in etwa fünfzig Metern Tiefe neben dem Ablaufkanal wieder zurück Richtung Land getaucht.

»Und? Hast Du eine neue Tierart entdeckt?« Amy räkelte sich auf dem Handtuch. Der Tag im Wasser hatte ihre Bräune vertieft. Der Kontrast zu ihrem weißen Bikini und den langen blonden Haaren war noch deutlicher geworden.

»Nee. Wüst und leer, wie der Rest des Planeten. Da unten gibts nur Bandalgen und Sonnenschwimmer. Langweilig wie eine Biostunde.«

Martti schlängelte sich an Land. Als er den trockenen Sand erreichte, richtete er sich auf. So verhinderte er, dass sich die Krümel in seine Lamellen setzten. Von der Badehose abgesehen war er in wenigen Sekunden trocken.

»Auch wenn ich Edgar nur ungern Recht gebe, sollten wir den Rückzug antreten. Die Flut fängt langsam an, aufzulaufen. In spätestens einer Stunde steht das Wasser bis da oben zum Hang.« Martti gähnte.

Amy schaute kurz aufs Meer hinaus, dann rollte sie ihr Handtuch ein. Edgar stellte ihre Tasche in den Kofferraum, dann zwängte er sich auf die Rückbank. Amy setzte sich ans Steuer, Martti daneben. Das Fahrzeug holperte die unbefestigte Straße entlang.

Auf halbem Weg den Hang hinauf riß Amy das Steuer zur Seite. Fluchend rammte sie ihren Fuß auf die Bremse. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sie den Kotflügel des entgegenkommenden Fahrzeuges berührte. Das Geschrei des Fahrers war schlimmer als das Kratzen verbogenen Metalls.

»Ist alles in Ordnung?« Amy stieg aus. Der andere Fahrer auch.

»Nein, dämliche Kuh! Sieh Dir an, was Du mit meinem Auto gemacht hast!«

Martti bewertete die Situation. Nach einer Sekunde schlüpfte er durch die offene Tür. Er positionierte sich, um den anderen Fahrer abzufangen, wenn er eine sehr, sehr dumme Entscheidung träfe.

»Oh, natürlich! Auch noch Mutanten! Ihr blöden ??????????? habt mein Auto ruiniert!«

Martti tastete nach seinen Armbändern. Beim dritten Versuch erinnerte er sich, dass er sie in Amys Tasche gelegt hatte, um sie nicht versehentlich auszulösen. Nun ja, dann musste es eben ohne gehen.

Der andere Fahrer machte einen Schritt in Amys Richtung. »Ihr seid an allem Schuld! Wenn es Euch nicht gäbe, würden uns diese Barbaren in Frieden lassen! Dann müsste ich kein Geld für … den Schutz meiner Familie ausgeben. Und wegen Euch komme ich jetzt auch noch zu spät! Ich wünschte, ihr wärt alle an Euren kranken Genen erstickt!«

Martti entschloß sich, den Mann von den Füßen zu reißen, wenn er Amy auf Armeslänge nahegekommen war. Er spannte sich an und wartete auf den richtigen Moment.

Stattdessen trat Amy einen Schritt nach vorn. »Sie halten auf der Stelle den Mund! Erstens sind die Mutanten ebenso Bürger wie Sie und zweitens leisten die Mutanten einen größeren Beitrag zur Verteidigung unseres Planeten als Sie mit Ihren wilden Verschwörungstheorien. Sie verbreiten hier Feindpropaganda. Entweder sind Sie ein Purist oder ein Verräter!«

Der Mann trat einen Schritt zurück. Amy hatte nicht laut gesprochen, aber mit einem solchen Nachdruck, dass Martti es beinahe selbst geglaubt hatte.

»Wir tauschen jetzt unsere Daten für die Versicherung aus und dann gehen wir unserer Wege. Und ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich in Zukunft genau überlegen, auf welcher Seite Sie stehen wollen. Auf unserer Seite, auf der von Pietrocarro oder wie ein kleiner Feigling auf Ihrer eigenen.«

Martti entspannte sich, als der Mann in sich zusammenfiel. Amy hatte mit ein paar Worten diesen aggressiven Nichtsnutz in einen unterwürfigen Nichtsnutz verwandelt. Martti hätte ihn wohl zu einem bewusstlosen Verschwörungstheoretiker verarbeitet. Inzwischen legte das Opfer seine Papiere auf die Motorhaube.

Lautlos stieg Martti wieder ein.

»Du kannst froh sein, dass Amy nicht gemerkt hat, dass Du sie verteidigen wolltest.« Edgar hatte die ganze Sache beobachtet. Er schien es nicht mal für notwendig erachtet zu haben, seinen Gurt zu öffnen.

»Hmm. Und der Kerl kann froh sein, dass ich sie nicht verteidigen musste.«

»Wäre kein schöner Tag für ihn geworden, oder?«

Martti drehte sich zu Edgar um. Es dauerte einen Moment, bis er sich eingestehen musste, dass Edgar Recht hatte. Es waren nicht einmal die Worte des Mannes gewesen, die das verursacht hatten, sondern an wen sie gerichtet waren.


Submitted: February 16, 2025

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