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Martti hastete durch die Gänge der Universität. Wenn man für die Maglev-Gesellschaft arbeitete, war jedes Pod-Dock eine Pforte zum Werksgelände. Das nächstgelegene befand sich direkt vor der Uni. Vorbei an dem Springbrunnen, von dem Perrin immer als klassisches Kunstwerk sprach und durch das Tor, dessen Bogen vorgab, Marmor zu sein.

Getrennt durch einen breiten Weg für die wenigen Radfahrer verlief die Straße einmal um die Uni herum. Ihre Konstruktion war nur wenig lächerlicher als der Brunnen. Die einzigen Fahrzeuge auf der Straße waren die Laster, die die Uni belieferten. Keinem würde jemals erlaubt werden, durch dieses Tor zu fahren. Anlieferungen wurden diskret auf der Rückseite des Campus abgeladen.

So fiel der Schatten der Maglev-Bahn auf eine unbenutzte Fläche, deren einziger Zweck darin bestand, auf einer Landkarte symmetrisch auszusehen. Dock, Tor, Springbrunnen, Gebäude bildeten die Mittelachse eines riesigen Siebenecks.

Martti setzte sich im Laufen die Mütze auf. Er umrundete den Brunnen, wobei er sich darauf konzentrierte, den Firmenausweis aus der Tasche zu ziehen ohne ihn hineinfallen zu lassen. Die kleine Karte würde ihm den Weg zum Depot kostenfrei ermöglichen. Der Ausweis war einer der Gründe, warum Martti lieber Pods putzte anstatt in einem Callcenter Passworte von Leuten zurückzusetzen, die seiner Meinung nach besser keinen Computer benutzen sollten.

Unmittelbar hinter dem Tor – einen Schritt außerhalb der Uni – wurde Martti am Handgriff seines Rucksacks nach hinten gerissen. Drei Studenten stellten sich ihm in den Weg: Ezra und Serge aus dem Schwimmteam blockierten den Fahrradweg. Also stand Daniel wohl hinter Martti. Der vierte – der immer mit den drei herumhing und den Martti bisher nie wichtig genug gefunden hatte, um seinen Namen zu erfragen – versperrte den Weg zum Dock.

»Haben wir Dich!« Daniel zerrte am Rucksack.

»Ja. Und Du hast dafür nur drei Helferlein gebraucht«, sagte Martti.

Als Quittung versuchte Daniel, Martti zu Boden zu drücken. Der schlüpfte aus den Trägern des Rucksacks. Daniel stolperte. Als er sich wieder gefangen hatte, schleuderte er den Rucksack durch das Tor. Das Platschen verriet, dass er den Brunnen getroffen hatte.

»Da war mein Tablet drin«, sagte Martti. Seine Stimme war frei von jeglicher Emotion.

»Dann musst Du jetzt eben auf Papier schreiben, wie alle anderen Peaches.« Daniel bemühte sich nicht, den hämischen Klang aus seiner Stimme heraus zu halten.

Martti wurde von hinten geschubst. Daniel schubste ihn zu Ezra, der ihn zu Serge schubste und der zum unwichtigen Vierten. Das ganze ging ein paar Runden. Martti sagte kein Wort.

»Wehr Dich, Du Feigling.« Daniel – seiner Rache beraubt – wurde rot im Gesicht.

Martti blieb still.

»Keiner wird Dir zu Hilfe kommen. Wir können das den ganzen Tag machen.«

Martti taumelte zwischen den Studenten umher. Offenbar brauchte er seine ganze Konzentration, um auf den Beinen zu bleiben. Leon hatte das nicht gekonnt und war schmerzhaft mit der verbrannten Körperseite auf den Boden geknallt. Der Beweis dafür lief immer noch im Format 8 mal 5 Meter neben dem Pod-Dock. Nach jedem Durchlauf wurde jetzt allerdings eine Werbung für Perrin Rechtschutzversicherungen geschaltet.

Als Ezra Martti in Daniels Richtung schubste, änderte sich seine Haltung. Er duckte sich etwas und nahm Anlauf. Mit einem Grunzen hob er Daniel ein paar Zentimeter hoch. Der Student bekam nur ein Quietschen heraus.

Serge erkannte, was Martti vorhatte. Der Rand des Brunnens war ideal dazu geeignet, Daniel’s Kopf darauf zu schlagen. Ungebremst und ungepolstert wäre das tödlich. Ihm wurde kalt. Sie hatten es mit dem dürren Kerl zu weit getrieben. Serge rannte los, um ihn zu stoppen. Er wusste, dass er zu spät kommen würde. Martti würde Daniel das Genick brechen.

Ezra, Serge – und auch Daniel – wirkten überrascht, als Daniels Kopf nicht auf den Rand schlug. Stattdessen landete er mit einem lauten Platschen im Brunnen. Martti sprang hinterher.

Daniel versuchte, den Kopf über Wasser zu halten. Der Brunnen war gerade tief genug, damit Daniel den Oberkörper heben musste, um atmen zu können. Martti stützte sich mit den Händen auf Daniels Schultern. Das reichte gerade so, ihn unter Wasser zu halten.

Daniel schlug nach Martti. Serge packte Martti an den Knöcheln, um ihn von seinem Opfer herunter zu ziehen. Martti presste die Kante seines Stiefelabsatzes in Serges Daumen. So befreite er erst ein Bein, dann das andere.

Daniel strampelte immer verzweifelter. Seine Todesangst verlieh ihm die Kraft, Marttis bessere Position zu überwinden. Er warf ihn zur Seite. Luft! In seinen Gedanken war nur Platz dafür.

Martti legte seinen linken Arm um Daniels Hals. Mit der rechten Hand packte er sein eigenes Handgelenk. Er zog die Beine an und klammerte sich an Daniel. Sein ganzes Gewicht zerrte von hinten an dessen Hals. Der größere Student hatte die Kraft und die Ausdauer, sie beide über Wasser zu halten.

Für einen Moment. Dann kippten sie beide nach hinten. Daniel landete hart auf Martti. Der ließ trotzdem nicht los. Obwohl er selbst nicht atmen konnte, hielt er den Kopf des Rüpels unter Wasser.

Zehn Sekunden vergingen. Daniel strampelte. Er versuchte abwechselnd, Martti loszuwerden und seinen Kopf zu heben.

Zwanzig Sekunden. Durch das aufgewirbelte Wasser sah Daniel Ezra und Serge am Rand stehen. Die beiden lachten.

Dreißig Sekunden. Martti konzentrierte sich darauf, sein Handgelenk festzuhalten.

Fünfzig Sekunden. Ezra und Serge stiegen in den Brunnen. Offenbar hatten sie jetzt genug und wollten ihrem Freund helfen. Martti zog die Schlinge seines Armes enger und enger, bis er seinen Handballen in den Mund bekam. Er biß zu. Der Schmerz spielte keine Rolle. Er brauchte eine freie Hand.

Sechzig Sekunden. Ezra nahm Daniels Arm. Eine Sekunde später zuckte er zurück. Das Wasser färbte sich rot. Zwischen Marttis Fingern blitzte eine kurze, gekrümmte Klinge. Nach Ezras Bein erwischte sie Serges Arm. Das Wasser schmeckte nach Metall.

Achtzig Sekunden. Daniel strampelte heftiger. Er zerrte an Marttis Arm. Sein Daumen wurde nach hinten gebogen. Wie machte das dieser Peach? Hatte er vier Arme?

Einhundert Sekunden. Martti konzentrierte sich darauf, sein Handgelenk zu umklammern. Lange konnte es nicht mehr dauern.

Zwei Minuten. Die Welt war kalt. Sie schmeckte nach Kupfer. Martti tat die Hand weh. Daniel zappelte nicht mehr.


»Ey! Aufwachen!« Leon klatschte Martti die Hand auf die Wange.

Es dauerte einen Moment, bis der Student wußte, wo er war. Eine Menschenmenge umringte den Brunnen. Leon kniete neben ihm. Ein Sanitäter drückte eilig eine Maske auf Daniels Gesicht. Zwei Polizisten standen ratlos neben all dem.

»Alter! Was für ein kranker Scheiß war das denn?« Leon klang gleichzeitig besorgt, beeindruckt und bestürzt.

Martti richtete sich auf. Seine Hand tat weh und das Atmen fiel ihm schwer. Trotzdem machte er damit weiter.

»Wie geht es dem da«, fragte der kleinere Polizist.

»Er wird’s überleben. Das Opfer auch.« Der Sanitäter konzentrierte sich auf die Anzeige des Diagnosecomputers.

Martti schob Leon zur Seite. Mit einem Grunzen stemmte er sich hoch. »Opfer? Der Typ da hat mich überfallen. Zusammen mit seinen Spießgesellen wollte er mich verprügeln. Oder schlimmeres! Ich werde ihn anzeigen! Verklagen! Verhaften Sie ihn!«

Der größere Polizist zog eine Augenbraue hoch, dann zückte er Stift und Notizblock. »Ausweis!«

Martti atmete tief durch. Der Nebel in seinem Kopf klärte sich. Für einen Moment schaute er zu Daniel hinunter. Der lag völlig hilflos da. Er könnte mit ihm tun, was er wollte. Der Sanitäter und die beiden Polizisten, ja selbst die Menschenmenge, würden ihn nicht stoppen können. Wenn er nur wollte, wäre jetzt der perfekte Moment.

Statt des Messers holte er die Brieftasche hervor. Der Polizist nahm die kleine Plastikkarte mit Marttis Foto entgegen.

»Was genau ist denn passiert«, fragte der andere.

»Schauen Sie sich das Video an«, sagte Leon. »Mein … Klient sagt gar nichts.«

»Sie sind Anwalt?«

»Jura, achtes Semester.« Leon richtete sich auf, soweit es die Narben auf seiner linken Seite erlaubten.

Der Polizist gab Martti den Ausweis zurück. »Sie hören von uns. Ich rate Ihnen, in Foundation zu bleiben. Wenn wir Sie in New Horizons oder dem Hinterland suchen müssen, wird das Konsequenzen haben. Und wir finden Sie trotzdem.«

Leon nahm den Rucksack, dann schob er Martti in Richtung Pod-Dock. Die Menschenmenge teilte sich. Leon versuchte, Martti mit der rechten Schulter zu stützen. Martti schob ihn zur Seite. Mit jedem Schritt wirkte er fitter.

»Wo willst Du hin? Das Wohnheim ist da drüben?« Leon zerrte Martti nach links.

»Ich muss zur Arbeit. Dieser Mist hat mich schon zu viel Zeit gekostet.«

Leon starrte Martti an. In den zehn Jahren hatte er einige verrückte Aktionen gesehen. Insbesondere Rüpeln gegenüber kannte sein Mitbewohner keine Hemmungen. Er hatte schon einige Finger verbogen, Ohren gezogen und Nasen verdreht. Meist, wenn die Besitzer dieser Körperteile vorher Leon schikaniert hatten. Ob es wegen Leons Narben war, oder weil sie beide im Waisenhaus aufgewachsen waren, hatte Martti nie interessiert.

»Alter, Du bist grade fast ertrunken und willst trotzdem zur Arbeit? Und die Polizei ignorieren?«

Martti schnaufte. »Ertrunken! Pah! Ich habe Daniel eine Lektion erteilt. Der kommt uns nie wieder zu nahe.«

Leon schaute Martti verwundert an. »Lektion? Eine Ohrfeige ist eine Lektion. Das Video war eine Lektion. Das hier war echter Mutantenmist.«

Martti ächzte. »Du solltest aufhören, diese Märchen über den Krieg zu sehen.«

»Das sind Dokumentationen! Da kann man viel lernen!«

»Klar. Hass und Intoleranz. Das sind wichtige Fähigkeiten für die Konjunktion und das Leben an sich.«

Martti hielt seine Karte an den Leser. Ein Pod würde in einer Minute andocken. Siebzehn Minuten später wäre er am Depot.

»Mach dich nur lustig. Wenn die Horden des Generals angreifen, bin ich wenigstens vorbereitet. Aber jetzt mal im Ernst. Was sollte das? Du hast Dich beinahe selber umgebracht, um diesem Ar… Idiot … genau was zu demonstrieren?«

»Beinahe ist das Stichwort. Daniel kann die Luft nicht lange genug anhalten. Das ist schon immer sein Problem gewesen, seit er dem Schwimmteam beigetreten ist. Während der Rest von uns eine Bahn oder länger durchtauchen kann, gibt Daniel schon nach ein paar Metern auf.«

Leon starrte Martti ungläubig an. »Und Du wolltest ihn ersäufen und dann einfach aufstehen?«

Martti schüttelte den Kopf. »Seine Kumpels hätten uns schon rausgezogen.«

»Nach der Nummer mit dem Messer?«

»Spätestens wenn ich bewusstlos geworden wäre. Wenn sie nicht gerade Leute schikanieren, halten sie sich für gute Menschen. Damit kann man arbeiten. Der Rest … der Rest war notwendig. Wenn ich mit Daniels Profil richtig liege, wird er sich von uns fern halten. Und das Schwimmteam verlassen.«

Leon starrte Martti mit offenem Mund hinterher. »Er hat Angst vor Wasser! Du hast ihm eine Wasserphobie gegeben!«


Submitted: February 16, 2025

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