Eine ältere Dame, überraschend menschlich und aufdringlich mütterlich, begleitete Martti durch die Akademie. Ein horizontaler Fahrstuhl brachte sie vom Krankenhaus zu den Wohnheimen. Henrietta rief einen Campus-Plan auf, um ihm die verschiedenen Gebäude zu zeigen. Die Wohnheime wurden rollierend nach Jahrgängen vergeben, sodass auch langjährige Schüler im gleichen Zimmer bleiben konnten.
Bei manchen war das aus medizinischer Notwendigkeit, bei anderen aus psychologischer. Martti verstand das Konzept – wenngleich er sich die Details nicht vorstellen konnte – bei ersterer, hatte aber kein Verständnis bei letzterer. Wieso sollte jemand Angst vor einem Umzug haben?
»Hier sind wir, Schätzchen«, sagte Henrietta. »Du teilst Dir die Gemeinschaftsräume mit nur einem Bewohner. Edgar ist ein ganz Ruhiger. Ihr werdet gut miteinander auskommen.«
Das Zimmer war eine Wohnung mit mehr Fläche als die, die er sich mit Leon teilte. Offenbar konnte man Kindern aus Foundation nicht zumuten, in kleinen Räumen zu leben.
Nachdem Henrietta ihm alles gezeigt hatte – und seine Abscheu vor der Dekadenz der Bewohner von Foundation ein eigenes Stockwerk in seinem Kopf bekommen hatte – zog er sein Tablet aus der Tasche. Den Totmannschalter hatte er bereits deaktiviert, sobald er Zugang zum Netz der Akademie bekommen hatte.
»Hey Leon«, sagte Martti.
»Hat alles geklappt? Bist Du jetzt einer von denen?«
»Ja, mehr oder weniger. Und nein, ich bin keiner von denen. Weder Mutant noch Schnösel.«
»Also ist Deine … Krankheit heilbar?«
»Das ist der Teil mit weniger. Selbst die Ärzte der Reichlinge können mir nicht helfen. Die Hand wird wohl so bleiben.«
Leon war einen Moment still. Er wußte genau, wie es sich anfühlte zu erfahren, dass man für den Rest seines Lebens beeinträchtigt sein würde.
»Mist. Heißt das, Du kommst zurück?«
»Wird noch eine Weile dauern. Mein Zustand ist noch nicht stabil.«
»Es wird also schlimmer? Was kommt denn noch?«
»Schlimmer würde ich nicht sagen. Es tut nicht weh. Und was noch kommt, kann selbst der Mutantendoktor nicht sagen. Veränderungen haben sie es genannt.«
Leon wirkte besorgt. »Du wirst also ein Mutant, ohne Mutant zu sein?«
Martti kicherte. »Wahrscheinlich. Mal sehen, wie die Schnösel das umdrehen, um mich auszugrenzen. Es kann ja nicht sein, dass ein Peach in diesen elitären Club aufgenommen wird.«
Leon schnaubte. »Ich wette, in einer Woche bist Du auch ein Schnösel und willst nichts mehr mit mir zu tun haben.«
»Das hast Du auch gesagt, als wir an die Uni gegangen sind. Und? Sind wir jetzt arrogant?«
Leon schüttelte den Kopf. »Vielleicht hast Du recht. Du meldest Dich aber.«
»Jeden Tag, wenn Du willst.«
Leon nickte, dann legte er auf.
Martti aktivierte die vorbereitete Lieferung seiner wichtigsten Sachen an die Akademie. Ein Bote würde in zwei Stunden aus einem Pod steigen und voller Abscheu eine Tasche und drei Kartons übergeben.
Seykey hatte inzwischen die email geschickt. Seine medizinischen Pflichten waren auf eine Stunde am frühen Morgen und zwei am späten Nachmittag begrenzt. Dazwischen klaffte eine Lücke von zehn Stunden. Ein ganzer Arbeitstag.
Mit einem Seufzer schickte Marrti eine Kündigung aus medizinischen Gründen an die Maglev-Gesellschaft. Ein weiterer Bote würde Uniform und Ausweis abholen. Er fragte sich, ob er den permanenten Pfirsichgeruch des Fungizids vermissen würde. In nächster Zeit würde er wohl nicht nach New Horizons fahren und musste für eine Weile seine Kleidung nicht gegen den Mottenschimmel schützen.
Nachdem er seine Pflichtaufgaben abgeschlossen hatte, setzte sich der Student auf die Couch und stellte sich die eine Frage, die er nun schon seit Wochen vor sich her schob: Was jetzt?
Die Masterarbeit war fertig und sicher auf einem Chip gespeichert. Sie ins Netz zu kopieren war nicht möglich, da er sonst die Ergebnisse nicht live demonstrieren konnte. Also hing der Chip um seinen Hals, bis er das nächste und letzte Mal gebraucht wurde.
Bis zum Abgabetermin gab es nichts mehr zu tun. Eigentlich wollte Martti die Zeit bis dahin nutzen, um einen Job zu suchen. Einen, der möglichst viel mit Computern und möglichst wenig mit dreckigen Sitzen zu tun hatte.
Nach einem Seufzer stand Martti auf. Das Universum hatte seine Pläne so gründlich durchkreuzt, dass er nicht einmal mehr als Putzkraft tragbar war. Also musste er neue Pläne machen. Das konnte erst einmal warten. Jetzt gab es eine kleine Stadt voller schräger Mutantenschnösel zu entdecken.
Die Gemeinschaftsräume bestanden aus einem kleinen Kino, mehreren Schreibtischen – vermutlich für gemeinsame Hausaufgaben –, einer Küche in der Größe seiner früheren Wohnung und einem Fitnessraum mit Sauna. Darin fand Martti einen zwei Meter großen Maulwurf, der Gewichte stemmte.
»Hi. Du musst Edgar sein«, sagte Martti.
Der Maulwurf setzte sich auf. »Du bist Martin?«
»Martti. Martti Turunen.«
»Wie das …«
»Ja. Wie das Kinderbuch. Die Betreuer im Waisenhaus fanden das wohl … lustig.« Martti schaute Edgar genau an. Er hatte gelernt, die Reaktion auf diese Erklärung direkt in eine Bewertung des Charakters seines Gegenübers umzusetzen.
»Ja. Lustig«, sagte Edgar ohne nennenswerte Emotion. Er musterte Martti, dann räumte er die Hantel ins Regal. Breitbeinig setzte er sich auf die Bank.
»Was ist Dein Defekt? Henrietta sagte irgendwas von Tentakeln.«
Martti zog den Arm hinter dem Rücken vor. Insgeheim hoffte er, dass Edgar zurückzuckte.
Der schaute sich den Arm an, dann nickte er. Ohne Kommentar ging er zur nächsten Maschine. Nachdem er einen Pin versetzt hatte, um das Gewicht zu verringern, fragte er: »Prognose?«
»Wenn ich den Großen Vogel richtig verstanden habe: Ganzkörper-Monster.«
Edgar schnaubte. »Lass sie das bloß nicht hören. Auf solche Sprüche steht Seykey gar nicht.«
»Ah. Ist der Große Vogel etwas empfindlich.«
»Nicht das. Das M-Wort kann Dich in Schwierigkeiten bringen. Wenn Du es ernst meinst, hast Du automatisch ein Monatsabo beim Psychologen gewonnen.«
»Und wenn nicht?«
Edgar zog die Stange herunter. Hinter ihm bewegten sich Eisenplatten nach oben, die an das Gewicht eines Pods herankamen.
»Keine Ahnung. Schüler putzen für gewöhnlich irgendetwas. Den Gang für ein halbes Jahr oder so.«
»Du bist also kein Schüler mehr?«
»Viertes Semester. Geologie.«
Martti schaute verwirrt. »Ich dachte, die Akademie ist nur für Kinder.«
»Der Staat finanziert den Aufenthalt nur bis zum Schulabschluß. Danach zahlt man selbst. Oder in meinem Fall: meine Eltern.«
Martti nickte. Bei diesem Tonfall steckte da eine ganz eigene Geschichte dahinter.
»Deine wollen Dich nicht frei rumlaufen lassen und zahlen lieber, anstatt dass Du den guten Namen der Familie mit Deinem Aussehen beschmutzt.«
Die Gewichte knallten aufeinander. Martti spürte die Vibration des Bodens.
»Du hast doch keine Ahnung! Meine Eltern wollen, dass ich das Hotel übernehme! Ich soll jeden Tag irgendwelche Fremden begrüßen, die sich dann hinter meinem Rücken über mich kaputt lachen.«
Martti trat von einem Fuß auf den anderen. Er bemerkte, dass ihn seine Vorurteile gerade wie einen Idioten hatten dastehen lassen. »Sorry.«
»Kannst ja nix dafür. Leute sind Idioten. Meine Eltern sind beruflich tolerant.«
Edgar setzte seine Übungen fort. Martti bekam schon vom Zusehen Muskelkater.
»Ich hab heute Nachmittag eine Stunde Physiotherapie, sonst nichts. Was kann man hier unternehmen?« Martti fand die Aussicht auf Kraftsport als einzige Quelle der Unterhaltung nicht besonders … unterhaltsam.
»Keine Ahnung. Ich hab keine Zeit für sowas. Mein Stundenplan läßt mir kaum Zeit fürs Training.«
Martti nickte. »Klaro. Studium geht vor. Ich find was. Man sieht sich.«
Die nächsten Tage verbrachte Martti im Labor, wieder als Ziel allgemeiner Neugier. Gerade die Sauglamellen an seinen Fingern schienen eine ganze Menge Leute zu interessieren. Erstaunlicherweise war ein großer Anteil daran Schüler. Seykey schien seine Mutation wohl in den Unterricht einzubauen, sowohl in Physik als auch in Biologie und Chemie.
Am Ende einer Woche als Versuchskaninchen kam eine email von der Uni.
Von: [email protected]
An: [email protected]
Subject: Exmatrikulation
Sehr geehrter Herr Turunen,
wir möchten Ihnen mitteilen, dass Sie zum Ende des Monats aus medizinischen
Gründen exmatrikuliert werden. Bitte geben Sie alle Gegenstände ab, die Sie
im Rahmen Ihres Studiums entliehen haben. Verspätete Abgabe resultiert in
Säumnisgebühren.
Mit freundlichen Grüßen,
Der Rektor.
Eine Minute später stand Martti in Seykeys Büro.
»Was bildet Ihr Euch eigentlich ein?« Martti stellte die Frage betont ruhig. »Glaubt Ihr wirklich, dass Ihr mich auf Eure Seite ziehen könnt, indem Ihr mich an die Uni verpfeift?«
Seykey schaute von ihrem Bildschirm auf. »Wie kann ich Dir helfen?«
»Jetzt tu nicht so unschuldig! Irgendeiner hat der Uni gesteckt, dass ich einer von Euch bin.«
»Ich gehe davon aus, dass damit Angehörige der Akademie gemeint sind.«
»Nein verdammt. Irgendwer hat denen gesteckt, dass ich auf dem besten Weg bin, ein mächtig mutiertes Monster zu sein.«
»Ahh. Ich hatte gehofft, dass Du etwas inklusiver bist, sowohl in der Ausdrucksweise als auch in den Ansichten.«
»Meine Vorurteile spielen keine Rolle. Meine Exmatrikulation schon!«
»Perrin hat Dich rausgeworfen? Aufgrund Deiner Mutation?«
»Ja, verdammt. Bis auf Euch weiß keiner davon. Also hat jemand gequatscht. Ich könnte Euch …«
»Das kann warten. Ruf ein Pod.« Seykey klappte ihren Laptop zu. Sie griff sich eine Jacke vom Ständer. »Und hol’ Dir eine Jacke. Wir müssen die Leute ja nicht gleich doppelt erschrecken.«
»Alistair, ich dachte, wir hatten eine Abmachung.«
»Frau Pakdimounivong, Herr Turunen. Wie es scheint, färben schlechte Angewohnheiten ab. Falls Sie physisch nicht in der Lage sind, zu klopfen, hätten Sie auch meine Sekretärin bitten können, Sie anzumelden.«
»Lassen Sie den Quatsch. Stoppen Sie die Exmatrikulation.«
»Oder sonst …«, fragte Perrin. »Eine Drohung sollte immer mit einer Konsequenz untermauert werden.«
»Wollen Sie wirklich eine Wiederholung der Hendricksen-Sache?«
Perrin lehnte sich nach vorne. »Das würden Sie nicht wagen. Wegen einem Straßenköter wie dem da?«
»Im Gegensatz zu Ihnen spielt die Herkunft meiner Studenten für mich nicht nur in der Presse keine Rolle. Martti lebt an der Akademie. Er ist kein Schüler. Ich bestätige gerne vor Gericht, dass er gesundheitlich in der Lage ist, seine Studienleistungen zu erbringen. Richter Wallis wird vermutlich einen neuen Rekord für die kürzeste Urteilsverkündung aufstellen, wenn sie das hört.«
»Richter Wallis ist letzten Monat in den Ruhestand gegangen. Ich zweifele daran, dass Sie ihre Enkelin noch einmal als Druckmittel einsetzen können. Soweit ich gehört habe, ist Richter Jensen eher auf der Seite anständiger Leute. Seine Kandidatur zum Abgeordneten basiert darauf, die Akademie nach New Horizons zu verlegen, wo sie keine Menschen stört.«
Seykey war einen Moment still. »Wie Sie wollen. Komm Martti. Wir müssen noch kurz bei Deinen Freunden von der Medienfakultät vorbei. Ich habe gehört, dass sie auf der Suche nach Interview-Partnern zum Thema Diskriminierung sind.«
Perrin sprang auf. »Das wagen Sie nicht!«
»Sie wollten Konsequenzen; jetzt bekommen Sie sie.«
»Also schön. Die Exmatrikulation ist vom Tisch. Und jetzt raus hier!«
»Wir warten im Vorzimmer, bis Martti die Bestätigungsemail bekommen hat. Ich traue Ihnen nicht, Alistair.« Seykey zog einen breit grinsenden Martti aus dem Büro.
»Danke«, sagte er, nachdem sie auf den harten Stühlen des Wartezimmers Platz genommen hatten. »Ich hätte nie gedacht, dass sich jemand wie Sie für jemanden wie mich einsetzen würde.«
»Definiere jemand wie Sie.«
»Ein … Schnösel. Jemand aus Foundation. Vielleicht auch Lehrer.«
»Ah. Ich hatte beinahe etwas anderes gedacht.«
»Was? Mutant? Monster?«
»So was. Oder Schlimmeres.«
Martti schaute Seykey von der Seite an. »Ich hab keine Vorurteile gegen Leute wegen ihres Aussehens. Ich stelle Ihnen bei Gelegenheit mal meinen besten Freund vor. Dann verstehen Sie, warum.«
»Aber Du hast Vorurteile wegen Herkunft und Beruf.«
»Ist das so abwegig? Was ist Ihre Meinung zu New Horizons und dessen Bewohnern? Sind wir alle dreckige Nichtsnutze und Versager? Weil es dort nur einfache, dreckige Jobs gibt, die Firmen nach New Horizons auslagern, um sie nicht in Foundation zu haben?«
Seykey schaute Marrti an. »Mir sind die sozio-ökonomischen Hintergründe der Diskriminierung von New Horizons bekannt.«
»Bekannt, ja. Ich hingegen muss damit leben. Dass meine Eltern wohl so arm waren, dass sie mich im Waisenhaus abgeben mussten, ist dann wohl so ein sozio-ökonomischer Hintergrund.«
Seykey schien das nicht zu beeindrucken. »Und was sollte das mit den Lehrern?«
»Nimms nicht persönlich, aber Lehrer tendieren nun mal dazu, Regeln aufzustellen, die nicht für sie gelten.«
»Das ist nur natürlich. Kinder müssen davor geschützt werden, dass sie eben noch nicht alles wissen.«
»Das mag fürs Insbettgehen gelten oder fürs Biertrinken. Da gibts keine Diskussion. Ich meine eher die Doppelmoral, die ihr so gerne an den Tag legt. Den Kindern wird erzählt, sie sollen nicht lästern und im Lehrerzimmer wird dann vom Leder gezogen. Die Kinder sollen nicht lügen, aber der Lehrer hat immer eine Ausrede, warum die Klassenarbeiten immer noch nicht korrigiert sind.«
»Lehrer sind auch nur Menschen.«
Martti schaute Seykey enttäuscht an. »Ah. Du also auch.«
»Was meinst Du?«
»Diese Doppelmoral. Lehrer sind nur Menschen, aber Schüler haben sich immer an die Regeln zu halten.«
Seykeys Blick war voller Mitleid. »Du musst ja furchtbare Lehrer gehabt haben. Ich versichere Dir, die Akademie hat höhere Standards.«
Marttis Blick war voller Zweifel. Trotzdem sagte er kein Wort.
Die Stille wurde durch das Brummen von Marttis Tablet unterbrochen.
»Die Uni hat wirklich die Exmatrikulation aufgehoben!« Martti klang überrascht und erleichtert. »Danke! Danke, dass Du Dich für mich eingesetzt hast. Ich schulde Dir etwas.«
Seykey stand auf. »Ich habe das nicht nur für Dich getan. Aber ich werde trotzdem auf Dein Angebot zurückkommen.«
Submitted: February 16, 2025
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