»Du weißt, dass das eine Falle ist.« Amy lag quer auf Edgars Sessel.
Martti klebte im Türrahmen. »Weil Leon mich an die Uni verraten hat?«
»Er haßt Dich. Warum sollte er Dich um Hilfe bitten? Und wieso gegen diesen Rüpel aus dem Video? Der kann doch nicht so dumm sein, das noch einmal zu versuchen.«
»Oh doch. Daniel Hegeler würde so ziemlich alles tun, um jemanden zu schikanieren. Er ist nicht dumm, aber der Drang Andere niederzumachen, ist so ausgeprägt, dass ich mir schon vorstellen kann, dass er es wieder auf Leon abgesehen hat.«
Martti schaute sich das Video noch einmal an. Leon wirkte sehr überzeugend. Es war nicht zu erkennen, dass er unter Druck gesetzt wurde. Offenbar hatte Daniel seine alten Hobbies tatsächlich wieder aufgenommen.
»Auch der Ort sieht sehr verdächtig aus.« Edgar zeigte auf den großen Bildschirm an der Wand, auf dem er die von Leon angegebene Position als Luftbild dargestellt hatte.
»Zwischen den beiden Wohnheimen bist Du quasi umzingelt.«
Martti rotierte das Bild. Zwischen den beiden Häusern gab es tatsächlich keine Fluchtmöglichkeit. Allerdings hatte er nicht vor, zu flüchten. Der Weg und die Wiese boten ideale Bedingungen, Daniels Bewegungen vorherzusagen.
»Auf den Dächern könnte er jemanden mit einer Kamera unterbringen, um zu filmen, wie Du ihn angreifst.« Amy zeigte auf die Flachdächer.
Martti rotierte das Bild erneut. Die Bäume behinderten die Sicht von den Dächern und man konnte in ihnen ein paar kleine Überraschungen verstecken. Er prägte sich die von den Bäumen verdeckten Bereiche ein.
»Vielleicht auch aus den Fenstern. Der braucht doch nur einen Bewohner zu bezahlen.« Edgar deutete auf die vielen Fenster.
Martti nickte. Der Plan in seinem Kopf würde so viele Zeugen wie möglich brauchen. Wenn es eine Falle war, würde Daniel beide Seiten des Durchgangs mit seinen Helferlein versperren und dann versuchen, Martti in die Enge zu treiben. Vermutlich würde er es so drehen wollen, dass er keine andere Möglichkeit gehabt hatte, sich gegen den bösen, gewalttätigen Mutanten zu verteidigen.
»Wie können wir helfen?« Amy richtete sich auf.
»Ihr? Gar nicht. Ich will Euch nicht in meine Probleme mit reinziehen. Und wenn es keine Falle ist, dann schon gleich gar nicht.«
»Du willst einer Gruppe von diesen Rowdys alleine gegenübertreten?« Amy machte ziemlich klar, für wie schlau sie die Idee hielt.
»Ja. Es wird eine ziemlich einseitige Begegnung werden. Wenn ihr mich jetzt entschuldigt, ich muss noch ein paar Sachen vorbereiten … für meinen Unterricht morgen.«
Martti schaute sich auf dem Dach um. Daniel hatte hier niemanden positioniert. Der Keil, den Martti gerade unter die Tür geschoben hatte, würde dafür sorgen, dass es auch so blieb. Lautlos kletterte er an der Wand des nördlichen Gebäudes herunter. Die Nacht verschluckte ihn, bevor er den Boden erreichte. Irgendwer hatte vor ein paar Stunden die Steuerung der Straßenlaternen deaktiviert.
Nachdem er das andere Dach gegen unbefugtes Betreten gesichert hatte, nahm sich Martti die Bäume vor. Methodisch ging er von Ost nach West und befestigte seine Geräte an den Ästen. Die 3D-Drucker in Abteilung 2 hatten fast einen ganzen Tag gearbeitet, um vier davon zu bauen. Das musste reichen.
Aus dem blauen Licht von Carro wurde das gelbe Licht von Pallu. Martti schlich sich zum Pod-Dock zurück. Daniel lauerte Leon jeden Morgen um die gleiche Zeit auf, behauptete das Video. Bis dahin würde Martti warten.
Als die Sonne hoch genug stand, durchquerte Martti das Tor zur Uni. Laut seinem Tablet funkte irgendein Gerät auf dem Dach des Pod-Docks einen Video-Stream ins Netz. Da die Docks keine Überwachungskameras hatten, konnte das nur einer von Daniels Kumpeln sein.
Verkleidet mit seiner Kapuze lief Martti aufrecht über den Campus. Er knickte sogar die Beintentakel in der Mitte, um vorzugeben, Knie zu haben. Auf die Sekunde genau erreichte er den Weg zwischen den Wohnheimen. Leon hatte die Engstelle fast durchquert. Er wirkte, als hätte er Angst, gleich von Daniel überfallen zu werden.
Martti schlich von einem Baum zum nächsten. Für einen Beobachter würde es so aussehen, als wolle er sich verstecken und stellte sich dabei sehr ungeschickt an. Als Leon hinter dem Wohnheim links abbog, kamen drei Männer von jeder Seite um die Ecke. Martti schaute sich um. Auch das hintere Ende des Durchgangs wurde von sechs Männern versperrt, die zu alt waren, um Studenten zu sein. Daniel hatte offensichtlich ein paar Schläger angeheuert.
Nachdem allen Seiten klar war, was als nächstes passieren würde, trat Martti auf den Weg. Er glitt aus seinem Hoody und der Sporthose. Nur bekleidet mit einer Badehose und einem Rucksack ging er auf die Männer auf der Westseite zu. Er wollte vermeiden, allen zwölf gleichzeitig zu begegnen. Das könnte ihn dazu zwingen, jemanden wirklich weh zu tun.
Im Laufen zog er zwei Keulen, einen Ball und ein Band hervor. Der Rucksack landete im Gras. Die Schläger vor ihm stutzten, dann brachten sie Knüppel zum Vorschein. Martti rannte los. Das rosa Band floss hinter ihm durch die Luft. Ein paar Meter vor dem Kontakt mit den Schlägern warf er den Ball hoch. Gleichzeitig schleuderte er dem größten Angreifer eine Keule ins Gesicht. Das Ziel wehrte das Geschoss mit der Hand ab. Offenbar war die Keule deutlich schwerer als erwartet. Das Geräusch brechender Finger und ein Schrei erklang.
Martti sprang in einen Flickflack. Das Band folgte ihm in einer großen Schleife. Den fallenden Ball fing er aus der Bewegung heraus auf. Unterstützt vom fast vier Meter langen Hebel seiner Arme und Beine beschleunigte er den Ball. Ein Mann wurde an der Brust getroffen. Er blieb liegen, wo die Physik es bestimmte.
Der Student sprang mit jedem Schritt höher in die Luft. Einmal, zweimal. Die Schläger positionierten sich an dem Ort, an dem er mit dem dritten Sprung landen würde. Wie geplant waren sie sehr verwirrt, als sich Martti zusammenrollte und wie eine lila Bowlingkugel einem weiteren Angreifer die Beine wegzog. Ein Schlag mit der Keule brach ihm den Ellenbogen.
Sofort änderte Martti die Richtung. Das Band wand sich um Arme und Beine. Während die Männer versuchten, sich zu befreien, stand der Student auf. Er kletterte an den überraschten Männern hoch und rannte über ihre Schultern hinweg. Das Band wand sich um Hälse und Schultern. Martti ließ sich fallen und schlüpfte durch weitere Beine.
Schließlich fing er das Ende des Bandes. Mit seiner ganzen Kraft zog er die Enden zusammen. Drei Männer klatschten mit dem Gesicht auf den Boden. Aus ihren Schmerzensschreien wurde ein ersticktes Gurgeln, als Martti das Band weiter und weiter straffte. Nach einem schnellen Knoten waren sie mehr damit beschäftigt, Luft zu bekommen, als ihn zu verprügeln.
Diese Seite des Durchgangs war frei. Blieben noch die sechs anderen. Martti hatte nur noch seine Keule. Er warf sie nach dem nächstbesten Angreifer. Der wich geschickt aus. Die Männer fächerten sich auf, um ihr offensichtlich unbewaffnetes Opfer zu umzingeln.
Martti presste sich an einen Baum. Er wartete auf den Angriff. Nur einer der Männer tat ihm den Gefallen, in den Wirkungsbereich der Überraschung zu treten. Martti griff nach hinten um den Stamm herum. Die Männer hielten einen Moment inne, als er mit dem Rücken zum Baum hochkletterte. Wie erhofft wirkten ein paar von ihnen etwas bleich.
Das Gerät war an einem der unteren Äste befestigt. Mit einem leisen Plopp löste es aus. Ein kurzes, dickes Rohr flog auf den Schläger zu. Gesteuert von einem primitiven Sensor und vierundzwanzig Zeilen Software zündete die Elektronik eine kleine Sprengladung, etwa einen Meter vor der Brust des Mannes. Er wurde von oben bis unten mit gelblichem Schleim bespritzt.
Seine Kumpane waren dadurch lange genug abgelenkt, damit Martti auf der Rückseite des Baumes herunterklettern konnte.
Der Schleim blies sich zu einem schnell härtenden Schaum auf, der den Schläger bewegungsunfähig machte. Glücklicherweise hatte das Gesicht des Mannes nur wenig abbekommen, sodass er nicht ersticken würde.
»Verdammt! Wo ist der Scheißkerl hin?« Einer der Schläger schien zu erwarten, dass Martti sich einfach kampflos ergab.
»Auf einem anderen Baum, Du Idiot. Da rüber. Wir kreisen ihn ein.«
»Und wenn der noch so eine Schaumgranate hat?«
»Weicht ihnen aus. Wenn es nicht klappt, schneiden wir Euch aus raus, wenn alles vorbei ist.« Der Anführer schien überzeugt zu sein, dass Martti keine tödlichen Waffen einsetzen würde.
Martti beobachtete vom nächsten Baum aus, wie die Schläger ihn einkesselten. Als ein leises Plopp erklang, sprangen sie fast synchron zurück. Martti merkte sich, wer die langsamste Reaktion gezeigt hatte.
»Das war ein Blindgänger. Hey Freak! Es wird weniger weh tun, wenn Du freiwillig mitkommst.«
Ein weiteres Plopp kam aus dem selben Baum. Die Schaumkartusche traf perfekt. In wenigen Sekunden war ein weiterer Mann bewegungsunfähig. Martti flüchtete auf den nächsten Baum. Auf dem Weg dahin schnitt er einem anderen Schläger Gürtel und Hosenbund auf. Die Armbänder falteten die Klingen zusammen, bevor er drei Schritte gemacht hatte.
»Da ist er lang! Schnappt ihn!«
Kurz vor dem nächsten Baum drehte sich Martti um. Er rannte mit den Beinen voran den Stamm hinauf. Die verbleibenden Schläger stutzten wieder einen Moment, ließen sich aber nicht abschrecken. Sie hatten wohl den Auftrag, Martti zu kidnappen. Daniel Hegeler war offenbar reich und nachtragend genug, echte Profis zu engagieren.
Martti nahm die Überraschung aus der Astgabel. Die letzten beiden Geräte mussten manuell gezielt und ausgelöst werden. Für die Entwicklung einer Software war die Zeit zu kurz gewesen. Die verbleibenden drei Schläger umkreisten den Baum. Dabei kamen sie immer näher. Martti zielte auf einen Mann, dann ließ er sich kopfüber von einem Ast hängen. Wie eine in Waffen vernarrte Fledermaus drückte er den Abzug.
»Au! Der ??????????? schießt mit einer Paintball-Pistole!« Der Schläger versuchte, den schweren Kugeln auszuweichen.
»Gleichzeitig! Er kann immer nur auf einen von uns schießen!« Der Anführer hatte den offensichtlichen Fehler in Marttis Plan gefunden.
Martti wechselte das Ziel. Den Anführer würde er für das Finale aufheben. Der andere Mann krümmte sich nach dem ersten Treffer. Reflexartig bedeckte er das Gesicht. Die Kugeln trafen ihn in die ungeschützten Rippen. Beim Aufprall platzten sie. Eine klebrige Flüssigkeit durchtränkte seine Kleidung.
Beim zuerst getroffenen Schläger begann sie inzwischen zu wirken. Wie ein Wilder klopfte er auf die getroffenen Stellen. Nach ein paar Sekunden riß er sich die Kleidung vom Leib, dann warf er sich zu Boden. Er rollte sich im Gras.
Martti ließ die leere Pistole fallen. Etwa die Hälfte der — mit der schnell einziehenden Salbe gefüllten — Kugeln hatte getroffen. Statt des Hautregenerators der Originalrezeptur hatten die Nanopartikel Capsaicin transportiert. Gut in Chili mariniert waren die Männer keine besonders gefährlichen Gegner. Martti streckte die Arme zum Boden. Er flutschte dem Anführer durch die Beine.
Auf dem letzten Baum wartete die vierte Überraschung. Sie war eigentlich für Daniel gedacht gewesen. Nachdem der Marttis Plan gründlich durchkreuzt hatte, machte sie das viel gefährlicher als es ihm lieb war. Hauptsächlich, weil sie nicht gefährlich war.
Martti fischte die Paintball-Pistole aus dem Geäst. Der Anführer kam im Zickzack auf ihn zu. Die ersten Schüsse verfehlten ihn, was ihn nur noch mehr anstachelte. Schließlich war der Mann nahe genug, nach der Pistole zu greifen. Martti wehrte den Schläger mit drei Händen ab. Die vierte verpasste ihn einen einzigen Treffer aufs Brustbein. Solange der grünliche Schleim nackte Haut traf, würde er seine Wirkung entfalten.
Der Mann stolperte ein paar Schritte rückwärts, dann fing er sich wieder. Martti feuerte zwei Kugeln auf dessen Solarplexus. Nicht, weil er musste, sondern weil er es wollte. Er brauchte ein Ventil für seinen Ärger und seine Frustration.
Der Schläger versuchte zu atmen, schaffte es aber nicht. Inzwischen entfaltete der Schleim seine Wirkung. An den getroffenen Stellen begannen Haare zu wachsen. Es wirkte, als würde der Mann dunkler werden. Von der Brust beginnend breitete sich der schwarze Flaum aus. Über die nächsten Tage würde er ein dichtes Fell bekommen. Anfänglich würde es seine natürliche Haarfarbe haben. Danach durfte der Farbkasten der Natur zeigen, welche Pigmente er enthielt.
Derartig schneller Haarwuchs hatte seinen Preis. In wenigen Sekunden waren die Eiweiß- und Mineralstoffvorräte in den Zellen des Mannes erschöpft. Er kippte einfach um.
»Beeindruckend!« Ein Mann trat hinter der Ecke des Gebäudes hervor. Er war ungefähr so breit wie hoch und hielt eine Pistole. »Eigentlich sollte ich Dir einen Job anbieten, aber ich habe den Verdacht, dass die Akademie Dich schon versaut hat. Moralische Grundsätze und so einen Mist.«
»Deswegen komme ich gleich zur Sache. Lass die Waffe fallen!« Der Mann zielte auf Martti. »Und dann bekomme ich den Datenchip, der um Deinen Hals hängt.«
Martti brauchte nicht lange, um seine Schlussfolgerungen zu ziehen. »Echt jetzt? Das ist Daniels Rache? Er heuert ein paar Schläger an, um mir die Masterarbeit zu versauen?«
»Quatsch nicht! Her mit dem Chip!«
»Der nutzt Daniel nichts. Er kann die Arbeit nicht mal als seine ausgeben. Die ist schon angemeldet, mit einer Zusammenfassung. Wenn er versucht, sie abzugeben, wird er direkt aufgrund des Plagiats exmatrikuliert.«
»Her mit dem Chip!«
Mit einem Seufzer warf Martti den Anhänger dem Gangster zu. »Ich habe die Arbeit in zwei Wochen neu getippt. Diese Nummer hat überhaupt nichts gebracht, außer meine und Ihre Zeit zu verschwenden.«
»Und Daniels Geld«, fügte Martti nach einer Pause hinzu. »War also vielleicht doch nicht ganz sinnlos.«
»Jetzt habe ich den Generalschlüssel zum Netz!« Der Gauner grinste hämisch.
Martti zuckte zusammen. »Leon hat Sie beauftragt? Nicht Daniel?«
»Dein vernarbter Mitbewohner war sehr hilfreich.« Der Gauner ging langsam rückwärts auf die Ecke zu. Um ihn herum sammelten sich die Schläger. Sie wurden aus dem Schaum befreit oder von ihren Kollegen gestützt.
»Und Daniel hat einmal in seinem Leben etwas richtig gemacht, indem er mit seinem Problem zu mir gekommen ist. Und jetzt bleibst Du hier ganz ruhig stehen, bis wir verschwunden sind.«
Martti nutzte die Zeit zum Nachdenken. Er musste als nächstes Daniel durchleuchten. Dieser Mann und seine Söldnertruppe hatten irgendeine Verbindung mit ihm und die war nicht geschäftlicher Natur. Ein Freund der Familie? Ein Nachbar? Wer auch immer er war, es würde eine Menge Arbeit machen, den Chip zurückzubekommen. Allerdings immer noch weniger, als den Residualschlüssel erneut zu generieren. Ohne den Schlüssel konnte er nicht demonstrieren, dass seine Theorie funktionierte. Ohne den Beweis konnte er die Arbeit nicht abgeben. Der Chip war sein Abschluss, seine Zukunft.
Submitted: February 16, 2025
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